Zum Inhalt springen
Foto:

Patrick Mariathasan / DER SPIEGEL

Kurt Stukenberg

SPIEGEL-Klimabericht Ist das noch schlechter Klimaschutz – oder schon Arbeitsverweigerung?

Kurt Stukenberg
Von Kurt Stukenberg, Ressortleiter Wissenschaft
Der Klima-Expertenrat der Ampel hat dem Verkehrsministerium ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt: Die Pläne zur Emissionsminderung seien »schon im Ansatz ohne hinreichenden Anspruch«. Was ist da los?

Liebe Leserin, lieber Leser,

keine zwei Monate ist es her, dass wir der Bundesregierung das SPIEGEL-Klimazeugnis  verliehen haben. Die Bemühungen der Koalitionäre bei der Mobilitätswende bewerteten wir damals mit einer 4-, einem »fast mangelhaft« also. Seit Donnerstag nun ist klar: Wir waren offenbar zu gnädig. Denn bei den Fachleuten des Expertenrats für Klimafragen – wohlgemerkt eines von der Bundesregierung eigens bestellten Gremiums – bekam der Klimaplan von Verkehrsminister Wissing nun eine glatte Sechs.

Was war passiert? Damit die Chance steigt, dass Deutschland die Klimaziele langfristig erreicht, hatte die Vorgängerregierung sogenannte Sektorziele ersonnen. Die Idee dahinter: Jeder Bereich, ob Energiewirtschaft, Verkehr oder Bauen, muss eigens definierte Einsparziele erreichen. Damit sollte der Gedanke verankert werden, dass nicht nur die Umweltministerin, sondern alle Ministerinnen und Minister eines Kabinetts jeweils in ihrem Bereich einen Teil der Verantwortung für das Megaprojekt Klimawende tragen. Verfehlt ein Ressortchef die Vorgaben, muss er zügig ein Klimaschutzsofortprogramm vorlegen, dass Maßnahmen auflistet, um die Ziele doch noch einzuhalten. Ein unabhängiger Expertenrat prüft im Anschluss, ob die Vorhaben ausreichen.

Das große Sorgenkind bei den Sektoren ist seit Jahren der Verkehr. Denn die Emissionen sind seit geraumer Zeit konstant oder steigen. Dabei müssten sie bis 2030 um 48 Prozent gesenkt – und damit fast halbiert werden. Auch 2021 hat das Haus von Minister Wissing die Ziele verfehlt und deshalb notgedrungen im Juli Ideen für Nachbesserungen vorgelegt. Experten kalkulierten schon damals , dass die Vorschläge des FDP-Politikers nicht einmal ansatzweise ausreichen würden, um die Lücke zu schließen.

Anforderungen des Klimaschutzgesetzes nicht erfüllt

Dass die Vorschläge von Volker Wissing nun auch beim Expertenrat durchfallen, verwundert wenig. Wie deutlich die Regierungsberater in ihrer Kritik  wurden, ist allerdings beachtlich. Der Rat stellte zum Beispiel fest, dass das Programm »zwar eine emissionsmindernde Wirkung entfaltet, aber nicht die Anforderung an ein Sofortprogramm gemäß Bundesklimaschutzgesetz erfüllt.« Und weiter: »Von einer vertiefenden Prüfung der Annahmen des Sofortprogramms für den Verkehrssektor hat der Expertenrat für Klimafragen daher zum jetzigen Zeitpunkt abgesehen.« Mit anderen Worten: Weil das Programm so offensichtlich unzureichend ist, haben die Fachleute die Detailanalyse gar nicht erst durchführt. Oder um es mit den Worten von Brigitte Knopf, Vizechefin des Expertenrats, zu sagen: Wissings Sofortprogramm sei »schon im Ansatz ohne hinreichenden Anspruch.«

Tatsächlich sind die Zahlen erschütternd: Denn Wissings Pläne würden bis 2030 nur etwa 13,66 Megatonnen (Millionen Tonnen) CO₂ einsparen – damit würden im Verkehr in diesem Zeitraum noch immer sage und schreibe 261 Megatonnen CO₂ mehr ausgestoßen als erlaubt.

»Wir sprechen nicht mehr von schlechtem Klimaschutz. Wir sprechen von Arbeitsverweigerung«, kommentierte  die Klimaaktivistin Luisa Neubauer. Ein Eindruck, der noch verstärkt werden könnten, wenn man sich die öffentlichen Aussagen aus den Reihen der FDP nur der letzten paar Wochen anschaut:

  • Nein zum Tempolimit

  • Nein zum vollständigen und schnellen Aus für Verbrenner auf EU-Ebene

  • Nein zu Abschaffung oder Reform des Dienstwagenprivilegs

  • Nein zur Verlängerung des 9-Euro-Tickets

Für sich genommen, könnten alle diese Maßnahmen helfen, die Emissionslücke im Verkehr zu schließen – sie scheitern bisher aber vor allem an der Partei, die in der Koalition den Verkehrsminister stellt. »Die Ignoranz des Verkehrsministeriums wird immer erstaunlicher«, erklärte  Remo Klinger, Anwalt der Deutschen Umwelthilfe. »Entweder liest man das Gesetz nicht einmal oder dessen Einhaltung ist einem egal.«

Und die FDP? Deren Chef Christian Lindner hat jüngst im Sommerinterview in der ARD betont, die Koalition wolle in Zukunft nicht mehr nur die Erreichung von Klimazielen in einzelnen Sektoren betrachten, sondern »stärker sektorübergreifend die Klimaziele miteinander verrechnen «. Das wäre für seinen Parteifreund Volker Wissing insofern praktisch, als dass die Lücke im Verkehr dann möglicherweise nicht mehr ganz so sichtbar wäre. Dem Klimaschutz geholfen ist damit allerdings nicht.

Wenn Sie mögen, informieren wir Sie einmal in der Woche über das Wichtigste zur Klimakrise – Storys, Forschungsergebnisse und die neuesten Entwicklungen zum größten Thema unserer Zeit. Zum Newsletter-Abo kommen Sie hier.

Ressortchef Wissing: 261 Megatonnen CO₂ mehr ausgestoßen als erlaubt

Ressortchef Wissing: 261 Megatonnen CO₂ mehr ausgestoßen als erlaubt

Foto:

Filip Singer / EPA

Die Themen der Woche

Vernichtendes Urteil des Klima-Expertenrats: Wissings Klimaprogramm »schon im Ansatz ohne Anspruch«
Deutschland verfehlt seine Klimaziele im Verkehr drastisch – und gibt sich keine Mühe, die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen. Der Expertenrat Klima gibt Minister Wissing für sein Sofortprogramm eine glatte Sechs.

Uneinigkeit in der Regierung: Gibt die Ampel ein zentrales Prinzip im Klimaschutz auf? 
Verkehr, Energie, Landwirtschaft: Die FDP will, dass nicht mehr jeder Sektor jährlich feste Klimaziele erfüllen muss. Die Grünen müssen entscheiden, ob sie nachgeben – oder den Koalitionskonflikt austragen.

Landrätin zum 9-Euro-Ticket: »Am besten wäre ein komplett kostenloses ÖPNV-Angebot auf dem Land« 
Das 9-Euro-Ticket hat auf dem Dorf nichts gebracht? Die niedersächsische Landrätin Dagmar Schulz widerspricht – die Nachfrage habe sich teils fast verdoppelt. Den Erfolg will sie mit einem neuen Billigfahrschein bewahren.

Weltpremiere für Wasserstoffzug: Der Dieselkiller von Bremervörde 
Zwischen Elbe und Weser fahren ab sofort die weltweit ersten Serienzüge mit Wasserstoffantrieb. Die Premiere in der niedersächsischen Provinz zeigt: Die neue Technik ist eine echte Alternative zum Diesel.

Dürre und Klimawandel: »Ein Temperaturschub, der in den vergangenen 2000 Jahren einzigartig war« 
Mitte des 20. Jahrhunderts heizte billiges Öl den Klimawandel massiv an. Die Folgen spüren wir heute, meint Klimahistoriker Christian Pfister – und sagt, was wir aus historischen Dürren lernen können.

Gluthitze und Dürre: Chinas verzweifelter Kampf um Regen 
Die Volksrepublik leidet seit Monaten unter immer neuen Rekordtemperaturen. Um die Getreideernte im Süden des Landes zu schützen, soll jetzt Wasser aus den Wolken geschossen werden. Kann das funktionieren?

Der Rhein – deutscher Mythos in der Klimakrise: »Ab einem gewissen Pegel ist Götterdämmerung« 
Lebensader, Nationalstolz, Naturgewalt: Der Rhein ist mehr als nur ein Fluss. Dass er immer weniger Wasser führt, verunsichert das Land auch psychologisch. Im Faltboot auf den Spuren von Adenauer und Wagner.

Protest der »Letzten Generation«: Kinder des Zorns 
Junge Aktivistinnen und Aktivisten kleben sich auf der Straße fest, um die Politik zum Klimaschutz zu zwingen: Woher kommt die Risikobereitschaft der »Letzten Generation« – und was sagen ihre Eltern, Arbeitgeber und Lehrer?

Bleiben Sie zuversichtlich,

Ihr Kurt Stukenberg